Meine Veranstaltungen zu Geschlechtertheorien beginne ich gewöhnlich mit der Frage, was eine gute Geschlechtertheorie ausmache. Viele der Studierenden kommen mit angelernten Theoriekonzepten im Kopf, aber sie können in der Regel nicht deren erkenntnistheoretischen Profile, Zusammenhänge und Interessen einordnen. Hingegen haben sie gelernt, feministische Theoreme einer Fortschrittslogik zu unterwerfen und historistisch zu verbrämen: früher, zuerst, dann, danach, nicht mehr vertretbar, der Stand der Wissenschaft ist… Theoreme werden heutzutage als „Theorie“ identifiziert, Methodologien als Methode. Feminismen werden, da als „Feminism*“ markiert und als „-ismus“ proklamierbar, als überwunden oder kategorial falsch aufgestellt erklärt.
Das Absurde an diesem Klassifikationshabitus ist, dass er dominant wurde, als ausgerechnet der Konstruktivismus bei Geschlechtertheorien ankam (1) und soziologische Diskurse kulturtheoretische Ansätze verwarfen. Wissenschaftsgeschichtlich macht sprachlos, dass Studierende bei Dozierenden, die in heutiger Generation wissenschaftskritisch gebildet sind, lernen, es gäbe einen positiv zu konstatierenden „Stand der Wissenschaft“ oder ein bestimmtes Geschlechtertheorem sei eine affirmative Größen statt ein kritisches Theorem (im Sinne der Kritischen Theorie).(2)
Verfolgt man nunmehr die Tiefenstrukturen von als maßgeblich behaupteten Geschlechtertheoremen, dann kann festgehalten werden, dass diese nach wie vor derselben Logik folgen, die den Geschlechterdiskurs schon immer profiliert hat: dem durchgestrichenen Subjekt S (Lacan) und den primitivsten Formen der Logik der Andersheit. Diese hat Beauvoir anfang der 50er Jahre des 20. Jahrhunderts bemängelt und eine bislang kaum erkannte Alternative dazu erarbeitet. Der Ausgangspunkt Beauvoirs: Es gibt kein Soziales-Geistiges GEGEN Biologie. Daher also gerade aufgepasst, was die Rezeption Beauvoirs betrifft. Sie hat schon in „Sitte und Sexus“ den Nominalismus, dem Vorläufer des Konstruktivismus, der Amerikanerinnen kritisiert. Und wer sich auf „Frausein ist gemacht“ berufen will, ohne Beauvoirs Ambition „Die freie Frau ist eben erst geboren“ ernstzunehmen, zitiert falsch, reißt das Prädikat „ist gemacht“ aus seinem Kontext, hat außerdem die Übersetzung aus dem Französischen ins Deutsche nicht überprüft (3) und unterläuft letztendlich die Differenzierungen, die Beauvoir schon entwickelt hatte.
Was macht eine gute Geschlechtertheorie aus? Sie muss es ermöglichen, unterschiedlichste Problemlagen der Geschlechterverhältnisse und deren Zusammenhänge zu erfassen und zu reflektieren. Dabei darf sie Kausalitäten weder verwerfen noch vereindeutigen oder eine Größe absolut setzen. Hingegen soll sie Möglichkeiten eröffnen, vor allem die Möglichkeiten unterschiedlichster Wirkungszusammenhänge in den Blick zu nehmen erlauben. Eine gute Geschlechtertheorie wirkt Vereindeutigungen entgegen, vor allem erhöht sie die Reflexionskompetenz. Sie trägt zur Freiheit von Frauen bei, ohne einem dualitischen Freiheitskonzept zu folgen. Und wenn sie sich an Gerechtigkeit ausrichtet, gewinnt sie Orientierung.
Was unterscheidet eine kritische Theorie folglich von einem Konstruktivismus? Was das moderne Differenzkonzept der Andersheit, dem die meisten Geschlechtertheoriediskurse im deutschsprachigen Kontext noch immer folgen, von dem postmodernen Konzept der Differenz, das Derrida, Hegel folgend, mit dem Kunstwort différance zu markieren versucht?
Während durch die Logik der Andersheit eine Position absolut gesetzt (zugleich eine bestimmte, determinierte Identität behauptet) und damit entpolitisiert wird (4), politisiert die différance gegebene Verhältnisse: Die différance markiert die Tätigkeiten des Unterscheidens. Identität wird als Effekt von Individuierungsprozessen kenntlich, deren subjektive Eigenarten geradewegs eine Identität prägen. Wer außerdem beispielsweise Gleichheit will, will eine veränderte Gesellschaft. Damit regiert die Differenz die Verhältnisse, denn diese sollen verändert werden.(5) Diese Regierung aber kann gerecht oder ungerecht sein. Der Einsatz von Gleichheit/Differenz wird zur Frage der Gerechtigkeit.(6) Gleichheit wird zum Effekt der Differenz, was sie hintertreiben wird.
Es ist das Politische, das das Primat der Differenz in postmodernen Diskursen begründet. Die „Geschlechterdifferenz“ ist hierin als Akt der politischen Praxis konstituiert: als das tätige Denken der Geschlechterdifferenz, das mit Denkbewegungen Differenzierungen erstrebt, damit eingefrorene (Geschlechter)Verhältnisse verflüssigt werden. Zugleich fordert diese Denkbewegung dazu heraus, etablierte Geschlechterverhältnissen erneut zu differenzieren und neue Verbindungen zu denken. Sie fordert dazu heraus, Aufgelöstes, in Auflösung Begriffenes, bislang Unverbundenes gedanklich neu zu ordnen. Also aktiv Theorie zu betreiben. Denn aktiv Theorie zu betreiben besteht darin, immer wieder neu „zusammenzuschauen“, immer wieder neu „gedanklich zu verbinden“. (Gr. theorein heißt „zusammenschauen“.)
Derart sind Geschlechtertheorien Theoreme der „Geschlechterdifferenz“, fokussiert man in dieser Kategorie nicht „die Geschlechter“, sondern geradewegs die „Differenz“: die Differenz als Politikum im Sinne der différance. Derart können die wegen ungerechter Geschlechterverhältnisse entstehenden Ambitionen, neue Verhältnisse entlang von mehr Geschlechtergerechtigkeit und folglich neuartige Differenzierungsprozesse zu entwickeln, ein sinnstiftendes Profil gewinnen. Derart kann Theoriebildung zum Denken der Geschlechterdifferenz und letztlich zu mehr Gerechtigkeit beitragen. Ungerechte Geschlechterverhältnisse wird es zwar wohl immer geben. Umso wichtiger ist die Reflexion der „Differenz“, wenn es um das Denken geht, das die Geschlechterdifferenz als Differenzgröße inmitten den Herausforderungen zu mehr Gerechtigkeit in allen menschlichen Bezugesgrößen erhebt.
Anmerkungen und weitere Literatur
(1) In der Regel herrscht Unkenntnis darüber, was der Konstruktivismus als Wissenschaftstheorie besagt und worin der Unterschied zwischen der Theoretischen und der Praktischen Philosophie besteht, vgl. Andrea Günter, Maskerade oder Unbehagen? Psychose oder Neurose? Homo Faber oder Natalität? Eine Auseinandersetzung mit Konstruktivismus, Dekonstruktion, Politik und dem Unbehagen an der Kultur, in: dies., Die weibliche Seite der Politik: Ordnung der Seele, Gerechtigkeit der Welt, Königstein/Ts.: Ulrike Helmer 2001, 227-269; Andrea Günter, Warum eine Denkwerkstatt?
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(2) Den aktuellen Höhepunkt hierzu bildet die Theorie der Anerkennung als affirmative Größe von Seiten Axel Honneths, eines Vertreters der Frankfurter Schule, obgleich Hegel sie als transformative Arbeit des Knechts profiliert hat, vgl. Andrea Günter: Die Praxis der Differenz und die mediale ethisch-menschliche Existenz. Eine Kritik des Anerkennungsparadigmas, in: Larissa Krainer u.a. (Hg.), Eine Frage der Ethik – eine Ethik des Fragens? Transdisziplinäre Untersuchungen zu Medien, Ethik und Geschlecht, Weinheim 2016, 64-80.
(3) Zu Recht gilt das als unwissenschaftlich. Beauvoir nun variiert „femme“, „Frau“, und „femelle“, „Tierweibchen“, d.h., ihre Aussage lautet: „Frauen werden zu Tierweibchen gemacht“. In der Folge kritisiert sie deterministisches Denken, indem sie diesem u.a. die Biologie als „theoretische Wissenschaft“ und „die freie Frau“ entgegensetzt, vgl. Andrea Günter, „Der Sternenhimmel in uns“: Transzendenz, Geschlechterdifferenz und die Suche nach Rückbindung bei Simone de Beauvoir, Luce Irigaray und den Philosophinnen von DIOTIMA, Königstein/Ts.: Ulrike Helmer 2003.
(4) Vgl. Andrea Günter: „Gender ideology“: Neuer (kirchlicher) Antifeminismus, Gesamten Artikel lesen
(5) Anke Drygala, Andrea Günter: Paradigma Geschlechterdifferenz. Ein philosophisches Lesebuch, Sulzbach/Ts.: Ulrike Helmer 2010.
(6) Andrea Günter: Konzepte der Ethik – Konzepte der Geschlechterverhältnisse, Passagen Verlag: Wien 2014; dies., Gerechtigkeit durch Gleichheit/Differenz oder Gleichheit/Differenz durch Gerechtigkeit? Zur Kontur eines ethischen Paradigmas, in: Michael Hartlieb, Felix Krause, Anna Kroll, Anna Maria Riedl (Hg): Gender, Autonomie, Identität (= Forum Sozialethik 14), Münster: Aschendorff 2015, 83-96.